Glück auf, der Teufel kommt
von Anja Engler
von Anja Engler
Klara stieg ins Auto und startete das Navi. Um die Adresse ganz sicher zu wissen, überflog sie nochmal die E-Mail:
„Liebe Kolleginnen und Kolleginnen,
unsere diesjährige Weihnachtsfeier führt uns ins verschneite Erzgebirge. Leuchtende Schwibbögen, duftende Räuchermännchen und Bergmannszüge mit Bläsern lassen euch mit ganzem Herzen in die Weihnachtszeit eintauchen. Wir werden das „Neunerlei“, ein typisches Weihnachtsgericht der Region, genießen und uns an der einheimischen Holzhandwerkskunst versuchen. Es geht dazu an folgende Örtlichkeit, die ihr unmöglich verfehlen könnt: …“
Klara seufzte. Für diesen „Spaß“ mit den „lieben“ Kollegen, die tagsüber bockten, nervten und die Ellenbogen ausfuhren, gondelte sie jetzt vom Heimarbeitsplatz aus am Abend fast zwei Stunden ins Hinterland.
Klara versuchte, die Fahrt auf den kurvigen Landstraßen und die Aussicht auf die Bergwelt zu genießen. Doch die Autos mit einheimischen Kennzeichen rauschten wie Himmelfahrtskommandos an ihr vorbei und es begann zu schneien, sodass sie ihre Scheibenwischer auf die höchste Stufe stellen musste. Plötzlich tauchte ein überdimensionales Entfernungsschild vor ihr auf, auf dem alle Orte durchgestrichen waren. Wo sollte sie jetzt hin? „Fahr doch zur Hölle!“, fluchte sie ihr Navi an.
„Route neu berechnen“, kam als Antwort und das Auto schlitterte auf eine Kreuzung, auf der alle Straßen gesperrt waren – bis auf eine. Mit einer Mischung aus pflichtbewusster Rationalität und mulmigem Gefühl und wagte sie sich auf den steilen Berghang, wo sich ihr bald eine Wand aus grauem Nebel und Eisregen entgegenstellte. Wo waren die Täler mit den stimmungsvoll leuchtenden Weihnachtsmärkten? Stattdessen tat sich unvermittelt eine Schlucht wie ein Schlund vor ihr auf, und sie raste mit ihrem Auto erschrocken über den hunderte Meter tiefen Abgrund direkt in einen stockdunklen Stollen hinein. Klara bremste panisch und verlor völlig die Orientierung. Während sie versuchte, sich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bekommen, nahm sie einen winzigen Lichtschein unter einer Tür und ein Wummern von Geräuschen wahr. War das die Rettung? Mit bis in ihren Hals klopfendem Herzen stieg sie aus und kämpfte sich trotz ihrer Platzangst durch den tropfenden, engen Stollen. Als sie die Tür öffnete, traute sie ihren Augen kaum – da waren alle ihre Kollegen! Und sie waren nicht allein. Als sie im schummerigen Licht genauer hinsah, fuhr es ihr kalt über den Rücken: Ihrer Chefin biss ein menschgroßer lebendiger Nussknacker gerade ein Ohr ab, die Sekretärin und der Kollege aus der Entwicklung waren an den Flügeln einer riesigen Weihnachtspyramide festgebunden und schwirrten schreiend durch die heißen Flammen der darunter befestigten Kerzen. Eine Kollegin aus dem Marketing wurde von Adventssternen aus Eisen mit spitzen Dornen verfolgt, die dem Kopf eines Morgensterns nachempfunden waren. Auf einem Tisch standen Speisen aus gebratenen Fingern, Kompott aus Gedärmen, Süßigkeiten aus kandierten Augen, kross gebackene Füße drehten sich am Spieß, knusprige Hautfetzen wurden als Knabbersnack serviert und auch Mett aus Hirn sowie Brei aus grob zerteiltem Knochenmark waren im Angebot. Aus einer Spieldose erklang ein Orchester von klirrenden Schaufeln, Bohrhammern und Bergeisen. Klara wollte panisch wieder aus dem Raum flüchten, da stellte sich ihr ein Wesen mit Engelsflügeln wie ein Endgegner in den Weg. Die Flügel waren schwarz und ausgefranst. Das weiße Gewand war voller Blutflecken. Als Klara genauer hinsah, entdeckte sie rote Hörner auf dem Kopf des Wesens, spitze Ohren und einen zackigen Schwanz. „Ich habe Weihnachten übernommen und jetzt euch! Kumpel, schafft sie alle in die Loren und dann fahren sie ein zum Malochen!“ Klara wurde, wie ihre Kollegen, von hünenhaften Schatten brutal zusammengepfercht und in einen Schacht geschoben. Unten in der ausgehobenen Grube angekommen, wurde ihnen befohlen: „Die einen bekommen Abbauhammer, die anderen müssen aus dem gefundenen Erzen Dämonenfiguren nach dem Willen des Teufels schmieden. Nur wer den Goldschatz findet, kommt frei!“
„Und wenn wir sagen, dass wir ihn alle zusammen gefunden haben?“, wisperte Klara. „Das wirst du nicht wollen“, krächzte der Teufel belustigt. „Dann musst du alles teilen. Und der Goldschatz reicht natürlich nicht für deine „Entlassung“. Die Boni sind im Arbeitsvertrag separat geregelt: Deine Seele will ich dann auch – und die verkaufst du nicht nur für so ein „Biss“-chen. Das muss sich doch lohnen! Mit dem Schatz musst du nicht mehr arbeiten – und das würde doch keiner von euch tun: teilen!“ Klara dachte kurz nach, und dann hörte sie jemanden kreischen …
Es dröhnte durch ihre Kopfhörer. „Hey Klärchen, bist du bei der Konferenz eingeschlafen oder was? Du würdest doch auch den Kunden kommunizieren, dass die Füllstoffe gesundheitlich unbedenklich sind, oder?“ Langsam erwachte sie durch die Stimme der Chefin. Sie erinnerte sich wieder. Die Korruption im Land, aus dem sie den Hauptrohstoff exportierten, … die unklare Studienlage zu den gesundheitlichen Folgen des Medikaments …“ Engelchen und Teufelchen diskutierten bei ihr jetzt nicht mehr. „Nein, bei so einer Party, mach ich nicht mit!“, platzte es ihr heraus und sie klickte auf „Exit“.