Einatmen, ausatmen. Pause.
Birgit Palasser
Birgit Palasser
Sie läutete Sturm, der schrille Klang der Glocke rauschte in ihren Ohren. Wo war sie nur? Sie war doch immer daheim. Noch nie war Svenja vor der Haustür gestanden, ohne dass ihre Mutter bereits auf sie wartete. Und ihre kleine Schwester, Maja. Jetzt drückte sie seit Minuten auf den Klingelknopf, es schepperte in ihrem Kopf, doch niemand öffnete. Vor zwei Tagen hatten sie telefoniert, sie wussten doch, dass sie kommt. Morgen. Doch Svenja wollte die beiden überraschen und stand einen Tag früher vor der Haustür, damit sie genug Zeit hätten, alles für Weihnachten vorzubereiten. Einzukaufen, den Baum zu schmücken und es sich auf dem Sofa gemütlich zu machen, Kakao mit Schlagobers zu trinken und Weihnachtskekse zu knabbern, die Svenja und Maja noch backen wollten. Pizza bestellen und Weihnachtsfilme schauen, nicht nur einen, alle auf der Liste, die Maja ihr schon geschickt hatte.
Nichts rührte sich in dem Haus, kein Licht drang aus dem Küchenfenster. Wo waren sie? Sie klopfte an die Holztür, rüttelte an der Türschnalle, nichts bewegte sich. Svenja hatte keinen eigenen Schlüssel, denn Mama hatte ihren wieder einmal verlegt oder verloren. Aber sie brauchte auch keinen, denn Mama war immer da. Beim letzten Besuch zu Allerheiligen war doch alles in Ordnung gewesen, Mama ging es gut, sie hatte den neuen Job, halbtags, und Maja machte einen glücklichen Eindruck. Sie war auch glücklich, erzählte mit einem Strahlen in ihren Augen die neuesten Erlebnisse aus der Schule und dass sie sich in Marko verschaut hatte, der mit den Sommersprossen und dem verschmitzten Lächeln.
Svenja holte ihr Handy aus der Tasche und wählte Mamas Nummer, nur die Mailbox, es läutete nicht einmal. Dann versuchte sie Maja zu erreichen, die Mailbox ging an.
Es war bereits finster geworden. Das Licht am Haustor ging an, Bewegungsmelder. Svenja war ratlos. Und sie spürte, wie Gänsehaut ihren Rücken hochkroch. Was war passiert? Sie hätte nicht weggehen sollen, sie hätte Maja nicht allein lassen sollen, sie hätte sich um sie kümmern und auf sie aufpassen sollen. Sie hätte nicht ihren Willen durchsetzen sollen, sie hätte die Verantwortung übernehmen sollen, sie hätte. Maja war ja erst zwölf. Auf Mama war eben kein Verlass. Noch nie. Und schon gar nicht, wenn sie wieder Rotwein zum Abendessen trank. Erst war es nur ein Glas, es gab noch ein Abendessen und dann wurde es die ganze Flasche, der Gin, der Wodka und ums Abendessen musste sich Svenja kümmern. Aber Svenja war ja nicht mehr da. Sie hatte durchgesetzt, dass sie nach München gehen konnte, zum Studium auf die Kunstakademie. Und Svenja liebte ihr neues Leben in der Stadt, sie fühlte sich so frei, so unabhängig und alle Möglichkeiten standen ihr offen. Mittlerweile dachte sie auch nicht mehr ständig an Maja und ihre Mutter, die beiden schienen gut zurechtzukommen.
War Mama wie schon so oft am Sofa eingeschlafen? Hatte sie sich wieder einmal bei einem Sturz verletzt? In ihrem Kopf drehten sich alle möglichen Gedanken, schneller und schneller und ein flaues Gefühl stieg in ihr hoch. Das darf doch nicht wahr sein. Tränen schossen in ihre Augen und ihre Knie wurden weich. Wo waren die beiden? Warum hatte sie niemand angerufen? Am Küchenbord klebte der kleine gelbe Zettel für den Notfall, mit ihrer Telefonnummer.
Svenja setzte sich auf die Stufen, sie musste ihre Gedanken ordnen und tief Luft holen. Panik half jetzt nicht weiter. Einatmen, ausatmen. Pause. Bis drei zählen. Und eine Entscheidung treffen. Sie stellte ihren Koffer hinter den großen Blumentopf, der weihnachtlich geschmückt war, das hatte sicher Maja gemacht, sie liebte Weihnachten. Die Lichterkette mit den Sternen leuchtete sanft. Es hätten friedliche Weihnachten werden sollen, einmal wirklicher Weihnachtsfriede – doch jetzt stand sie allein vor dem Haus. Svenja schnappte ihre Tasche, zog den Mantelkragen hoch und ihre Mütze noch tiefer in die Stirn, es hatte zu nieseln begonnen. Dann rannte sie los, irgendjemanden musste sie fragen, irgendwen musste sie um Hilfe bitten. Sie musste zur Polizei oder gleich ins Krankenhaus, am besten selbst hingehen, anrufen würde nichts bringen, am Telefon bekam man nie eine Auskunft. Und wer sollte sie ernst nehmen? Sie rannte zurück zum Bahnhof. Rechtzeitig, denn der Zug fuhr im selben Moment am Bahnsteig ein. Die Tür ging auf. Ein bekanntes Lachen drang in ihre Ohren, Maja! Mama! Zwei überraschte Gesichter. Sie fielen sich in die Arme. Mama roch nach ihrem Parfum und hatte eine neue Frisur, Maja drückte sich fest an Svenja. Die Überraschung war gelungen. Und Svenja war erleichtert, da waren die beiden. »Was machst du schon da?«, fragte Mama, »wir haben erst morgen mit dir gerechnet.«
»Ich wollte euch überraschen und mehr Zeit mit euch verbringen. Ich hab euch angerufen, warum hat keine von euch beiden abgehoben?« »Akku leer, sorry!«, sagte Maja mit entspannter Gleichgültigkeit einer Zwölfjährigen.
Birgit Palasser ist Autorin, Stilberaterin und Ghostwriter.