248 Tage
Conny Strumberger-Sellner
Conny Strumberger-Sellner
„Siri, wie warm wird es heute?“ Mit halboffenen Augen schielt Karin auf ihr Handy und wartet auf die Antwort der wohl schlauesten Frauenstimme, seit es Technik gibt. „Die Höchsttemperatur beträgt 24 Grad, und es scheint den ganzen Tag die Sonne.“ 24 Grad und Sonnenschein – perfekt für den 24. Dezember.
Während Karin ihr Outfit für den Tag zusammenstellt, hört sie ihren Lieblingsradiosender. Der Moderator ist wie immer bestens gelaunt und schafft es beinahe, Karins Stimmung im Gleichklang mit ihren Augenlidern zu heben. Zumindest beinahe. Denn als die Verkäuferin die Ansage für das nächste Lied hört, möchte sie das Radio am liebsten gegen die Wand schmeißen. „Der nächste Song macht zwar noch mehr Laune, wenn es draußen schneit, aber auch bei frühlingshaften Temperaturen kommt damit garantiert Weihnachtsstimmung auf. Hier ist Mariah Carey mit ihrer gesungenen Rentenversicherung ‚All I want for Christmas is you‘.“
Im nächsten Moment ertönt das unverkennbare Geklimper des Klaviers durch den Äther. Karin überlegt kurz, das Radio, das sie von ihrer Mutter passenderweise vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, abzudrehen, doch sie bleibt wie angewurzelt vor dem Kleiderschrank stehen. Kurz erwischt sie sich sogar dabei, in Gedanken mitzusingen, während sich Mariah Carey die Seele aus dem Leib trällert. Doch ehe sich Karin versieht, tauchen Bilder von vergangenen Weihnachten vor ihrem geistigen Auge auf … Bilder, die so sehr weh tun, dass sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann.
„Mama, darf ich das Geschenk bitte endlich auspacken? Ich glaube, das sind die coolen Schuhe, die ich mir so sehr gewünscht habe.“ Die Augen von Lena glänzen, als sie das Packerl, das verdächtig nach Schuhkarton aussieht, in Händen hält. Ungeduldig tritt sie von einem Fuß auf den anderen, um damit zu verdeutlichen, dass sie es nicht mehr erwarten kann, das Geschenkpapier aufzureißen und die „tollsten Schuhe von allen“ auszupacken.
Monatelang hat Karin auf die sündteure Überraschung gespart. Sie hat dafür sogar auf ein neues Paar Stiefel verzichtet, das sie selbst so dringend gebraucht hätte, weil ihre alten Treter langsam auseinanderfallen. Doch sie wollte ihre Tochter nicht enttäuschen. Und das strahlende Gesicht, als Lena die Schuhe anprobiert und damit wie auf einem Laufsteg durchs Wohnzimmer stolziert, waren jeden Verzicht wert.
Der Verkehrsfunk reißt Karin aus ihrem Tagtraum. Schnell wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und nimmt ihre alte Jeans aus dem Kasten. ‚248 Tage sind es jetzt schon …‘ Mit diesem schmerzlichen Gedanken zieht sich Karin fertig an, schaltet das Radio ab und macht sich auf den Weg in die Arbeit. Den Weg zum Geschäft, in dem sie seit drei Jahren arbeitet, kann sie bis auf ein kurzes Stück mit der U-Bahn großteils zu Fuß zurücklegen. Das genießt sie. Auch wenn sie alles andere als sportlich ist, geht sie liebend gern spazieren, weil sie dabei von Mal zu Mal etwas Neues entdeckt. Heute nimmt sie den Weg über den Graben – in der Hoffnung, dass sie der geschmückte Christbaum neben dem Stephansdom zumindest ein klein wenig in Weihnachtsstimmung bringt.
„Können wir bitte heute auf den Christkindlmarkt gehen? Ich würde so gerne eine Runde mit dem Riesenrad fahren. Bitte, Mama, können wir?“ Der Christkindlmarkt am Rathausplatz ist jedes Jahr das Highlight für Lena in der Vorweihnachtszeit. Die bunten Lichter, der hell erleuchtete Herzerlbaum, das Karussell mit Drehorgelmusik, die vielen Stände mit Geschenken und unzähligen Naschereien und dann natürlich das Allerbeste: das Riesenrad! Lena liebt es, hoch über dem Christkindlmarkt zu schweben und mit ihrer Mama von oben auf die Leute zu schauen. Und Karin liebt es, ihre Tochter so glücklich zu sehen …
‚Mist, schon fünf vor neun! Jetzt muss ich mich aber beeilen!‘ Karin legt einen Zahn zu und bemerkt dabei, dass sie den Christbaum neben dem Stephansdom nicht einmal registriert hat. In Gedanken war sie mit Lena auf dem Riesenrad.
Als sie im Schmuckgeschäft ankommt, stehen draußen schon die Kunden und warten darauf, dass geöffnet wird. Schmuck eignet sich für ein Last-Minute-Geschenk am allerbesten – das hat Karin in den vergangenen Jahren gelernt. Sie selbst wird heuer kein Geschenk bekommen, was sie aber gar nicht weiter stört. Viel schlimmer ist die Tatsache, dass sie heuer auch nichts verschenken wird. An wen auch? Sie fühlt, wie sich erneut Tränen ihren Weg nach oben bahnen wollen, hält diese jedoch noch rechtzeitig zurück. Nicht vor den Kunden, das gehört sich nicht!
Heute schließt das Geschäft schon um 13 Uhr. Karin hätte nichts dagegen, wenn sie länger bleiben könnte. Wenn es möglich wäre, würde sie sogar freiwillig Überstunden machen, doch ihre Kollegen können es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen. „Fröhliche Weihnachten!“, ertönt es durch den Laden. Hie und da noch eine Umarmung, ein Bussi links und rechts, und nachdem sie noch kurz mit Sekt auf das schöne Fest angestoßen haben, verschwinden alle blitzschnell nach Hause.
Auf Karin wartet zuhause niemand. Ihre Eltern wohnen weit weg und ihre Freundinnen haben allesamt Familie, mit denen sie Weihnachten feiern. Sie nimmt extra einen Umweg, um nicht früher als unbedingt notwendig bei ihrer Wohnung anzukommen. Diesmal bleibt sie vor dem Christbaum am Stephansplatz sogar kurz stehen. Doch anders als die Jahre zuvor überkommt sie beim Anblick der prächtigen Tanne kein wohliges Gefühl im Herzen. Vielmehr krampft es sich vor Schmerz zusammen. Weihnachten allein … ganz allein.
Als sie zuhause den Schlüssel ins Schloss steckt, hat Karin kurz das Gefühl, sie könnte die Stimme ihrer Tochter hören. Doch es sind nur die Nachbarn, die Besuch ihrer Enkelkinder haben und mit ihnen gemeinsam lachen. Im dunklen Vorzimmer zieht sich Karin langsam ihre Schuhe aus. Sie braucht kein Licht. Sie kennt ihre Wohnung. Jetzt dürfen die Tränen wieder ungehemmt fließen. Niemand sieht sie.
Eigentlich hat sie sich vorgenommen, ein Bad zu nehmen und dabei ihre Lieblingsmusik aufzulegen, doch als sie in das leere Wohnzimmer kommt, will sie nur noch eines: schlafen und an gar nichts mehr denken. Eingekuschelt in ihren warmen Pyjama legt sie sich ins Bett und hofft inständig, dass der anstrengende Tag Wirkung zeigt. Gerade, als sie das Gefühl hat, tatsächlich einschlafen zu können, piepst ihr Handy. Karin richtet sich auf, sieht aufs Display und beginnt einmal mehr hemmungslos zu weinen – doch diesmal sind es Freudentränen. „Fröhliche Weihnachten, Mama. Ich hab dich lieb.“
Conny Strumberger-Sellner ist Autorin, Lektorin und Ghostwriter.