Süßer die Glocken …

von Viktoria Kilian

Dieses nasskalte Wetter war unerträglich. Graue Nebelschwaden zogen vorbei und machten die Dunkelheit noch unheimlicher. Die Kälte des steinernen Grabdeckels, auf dem Simon saß, fraß sich unbarmherzig durch seine Hose und kroch in seine Knochen. Er wünschte, er hätte eine Decke mitgenommen. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen, denn es war jetzt schon das dritte Jahr, in dem er den Heiligen Abend hier verbrachte. Er wollte Weihnachten nicht allein sein – nicht ohne sie. Rebecca, seine große Liebe, Seelenverwandte und die Einzige, die ihn je verstanden hatte.

Vor drei Jahren war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Sie hatten den 24.Dezember bei seiner Familie verbracht. Simon hatte die Chance genutzt und Rebecca einen Heiratsantrag gemacht, den sie freudestrahlend angenommen hatte. Kurz vor Mitternacht waren sie aufgebrochen, um nach Hause zu fahren. Sie waren so glücklich gewesen und hatten schon auf der Fahrt begonnen, die Hochzeit zu planen. Ein betrunkener Autofahrer hatte dieses Glück nur kurze Zeit später beendet. Der Frontalzusammenstoß hatte Rebecca das Leben gekostet. Wie durch ein Wunder war Simon kaum verletzt worden, aber seit diesem Tag wünschte er sich fast täglich, er wäre mit ihr gegangen. Sein Herz war in tausend Stücke zerbrochen. Wie sehr er sich seitdem wünschte, wieder frei durchatmen zu können und ein bisschen Frieden zu spüren, aber seit drei Jahren war das nicht mehr möglich. Er spürte nichts mehr außer einer erdrückenden Leere.

Simon starrte auf den Grabstein, wie schon seit Stunden, als er aus dem Augenwinkel in einiger Entfernung ein Licht sah. Es bewegte sich in seine Richtung. Wer war denn um diese Uhrzeit auf dem Friedhof? Hoffentlich niemand, der sich unterhalten wollte, denn diese Zeit gehörte nur Rebecca. Das Licht kam immer näher, bis es plötzlich verschwand. „Habe ich schon Halluzinationen?“ fragte Simon sich und rieb sich die Augen.

„Hallo“, hörte er plötzlich eine sanfte Stimme hinter sich. Erschrocken drehte er sich um und wäre dabei fast vom Grabdeckel gefallen. Vor ihm stand eine Frau. Sie hatte blonde, lockige Haare, die ihr puppenhaftes Gesicht umspielten. Ihr Outfit war ein bisschen sonderbar, denn es sah aus wie ein langes weißes Nachthemd mit einem passenden Mantel darüber. „Hallo“, sagte sie noch einmal.

„Hallo! Was wollen Sie denn hier mitten in der Nacht?“ Keine Antwort. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich gerne allein. Schönen Abend noch“, sagte Simon ein bisschen genervt und drehte sich wieder zum Grabstein um. Anstatt weiterzugehen und ihm seine Ruhe zu lassen, ging die Frau um das Grab herum und stellte sich so hinter den Grabstein, dass sie Simon direkt in die Augen sehen konnte. Sie war wunderschön. „Hallo nochmal. Mein Name ist Chris … Chrissi. Ich hab dich hier sitzen gesehen und mir gedacht, du brauchst vielleicht Gesellschaft.“ „Nein, brauche ich nicht. Wie schon gesagt, wäre ich gerne allein. Es wäre also wirklich sehr nett, wenn Sie mich in Ruhe lassen würden“, erwiderte Simon unhöflich. Aber wieder erzielten seine Worte nicht die gewünschte Wirkung. Sie lächelte ihn ungerührt an. „Gleich ist Mitternacht und dann habe ich frei. Nur heute eine halbe Nacht lang, bevor ich wieder loslegen muss. Ich will meine freie Zeit nicht allein verbringen, und in diesem Jahr wünsche ich mir dich an meiner Seite.“ „Nein danke, kein Interesse. Ich kenne Sie ja gar nicht.“ Sie lächelte wieder und zwinkerte ihm zu. „Und was ist das eigentlich für ein blöder Job, in dem man nur einmal im Jahr frei hat?“ Chrissi überlegte kurz: „Nennen wir es selbständige Dienstleiterin im Wunscherfüllungsgewerbe.“ Noch bevor Simon auf diese abstruse Aussage antworten konnte, schlug die Turmuhr Mitternacht. Der 24.Dezember war offiziell vorbei. Chrissi stieß einen lauten Freudenschrei aus. „Wir können gleich los! Ich bin gleich so weit!“, rief sie, warf ihren Mantel von den Schultern und zog sich mit einer schnellen Bewegung das weiße Nachthemd über den Kopf.  Es ging alles so schnell, Simon konnte gar nicht reagieren. Als sie einen Schritt neben den Grabstein machte, konnte er ihr neues Outfit sehen: Ein schwarzes, hautenges, superkurzes Kleid, eine Netzstrumpfhose und schwarze Overknee-Stiefel. Sie schüttelte ihr Haar und verpasste ihrer schönen Lockenmähne noch einen wilden „Fresh out of bed-Look“. Schnell noch dunkelroten Lippenstift aufgelegt, den sie offenbar in ihrem tiefen Ausschnitt versteckt hatte, und fertig war sie. Simon starte sie mit offenen Mund an. Wer war diese Frau bloß?

„Fertig!“, rief sie vergnügt und drehte sich vor ihm mit hoch erhobenen Armen um die eigene Achse. Sie lief auf ihn zu, und als sie Simons Hand nahm, traf es ihn wie ein Blitz. Es war, als ein Licht seinen Körper durchströmte und sogar sein kaltes Herz ein wenig erwärmte. Sie ließ seine Hand nicht los, rannte los und zog ihn lachend hinter sich her. Simon konnte nicht anders und lief mit ihr über den Friedhof, zum Tor hinaus und auf die leeren Straßen. Sie schien genau zu wissen, wo sie hinwollte, und er folgte ihr, ohne zu fragen. Er vertraute ihr, obwohl er sie gar nicht kannte. Oder vielleicht doch? Da war dieses vertraute Gefühl, das er schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte und nicht einordnen konnte.

Völlig außer Atem blieb sie schließlich vor einer unscheinbaren Tür in einer kleinen Sackgasse stehen. Sie klopfte an und sofort wurde die Türe aufgemacht.

Simon schlug der Bass der lauten Housemusik entgegen. Der an sich dunkle Raum wurde nur durch bunte, tanzende Scheinwerfer erleuchtet. Er konnte keine Gesichter in der wogenden Masse der Tänzer erkennen, als sie ihn quer durch den Raum zur Bar zog. Sie hüpfte elegant auf einen Barhocker, nickte dem Barkeeper wortlos zu, und im Handumdrehen standen vier Tequila vor ihnen. Sie ließ seine Hand los, und sofort fühlte Simon wieder diese Leere in sich aufsteigen. Er war aber zu feige, um von sich aus nach ihrer Hand zu greifen.

Die Musik war so laut, dass er es erst gar nicht versuchte ihr zu sagen, dass er keinen Alkohol trank. Er schüttelte nur den Kopf, als sie ihm eines der Gläser hinhielt. Sie zuckte mit den Schultern und stürzte einen Shot nach dem anderen hinunter. Schuld und schlechtes Gewissen regten sich in ihm. Was machte er hier mit dieser fremden Frau? Es kam ihm vor, als würde er Rebecca betrügen, obwohl noch gar nichts geschehen war. Als ob Chrissi seine Gedanken gelesen hätte, nahm sie erneut seine Hand. Sofort waren alle trüben Gedanken vergessen, denn er spürte sofort wieder diese Wärme in seinem ganzen Körper. Sie sprang vom Barhocker und zog ihn hinter sich her auf die Tanzfläche. Das engelhafte Wesen bewegte sich zum wummernden Bass der Musik. Ganz nah an seinem Körper. Simon stand wie hypnotisiert da und beobachtete sie wie durch einen Schleier. Sie kam immer näher, und schließlich berührten sich ihre Körper, als sie begann, sich sinnlich an ihm zu reiben. Ihr Mund war nur Millimeter von seinem entfernt und er konnte ihren Atem spüren.  Ohne es zu bemerken, begann er sich an ihren Rhythmus anzupassen und gemeinsam bewegten sie sich engumschlungen. Alles um ihn herum verschwand. Er hatte nur Augen für sie. Als sie sich umdrehte und ihr wohlgeformtes Hinterteil an ihm rieb, umfasste er ihre Hüften und zog sie noch enger an sich. Sein Körper reagierte sofort und als sie es bemerkte, blickte sie ihn lächelnd über die Schulter an. Sie nahm seine Hände von ihren Hüften und führte sie langsam in Richtung ihrer intimsten Zone. Dabei bog sie den Kopf nach hinten und legte ihn auf seine Schulter. Trotz der lauten Musik bildete Simon sich ein, ein leises Stöhnen gehört zu haben. Diese Frau brachte ihn fast um den Verstand. Er hatte noch nie so ein Verlangen gespürt. Gleichzeitig überfiel ihn wieder schlechtes Gewissen. Er sollte so etwas nicht einmal denken. In dieser Sekunde löste sie sich von ihm und das tat ihm fast körperlich weh. Sie nahm ihn wieder bei der Hand und führte ihn ohne ein Wort zu den Toiletten. Zur Damentoilette. Simon wollte protestieren, aber sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Neben den Waschbecken stand in dem nur schwach beleuchteten Raum eine große rote Samtcouch an der Wand. Dort saßen zwei dunkelhaarige Schönheiten, die sich gerade leidenschaftlich küssten. Ein unheimlich aufreizender Anblick und der Inbegriff jeder männlichen Fantasie. Chrissi steuerte direkt auf die beiden zu. Simon konnte sehen, dass neben den Frauen auf der Sitzfläche ein kleiner Spiegel mit einem weißen Pulver darauf lag. „Darf ich?“, fragte Chrissi und unterbrach die beiden in ihrer Leidenschaft. Eine der Schönheiten lächelte sie an und reichte ihr wortlos den kleinen Spiegel. Simon wollte sie aufhalten, aber Chrissi war schneller. Sie befeuchtete ihre Fingerspitze mit der Zunge, tauchte den Finger in das weiße Pulver und verteilte es danach in einer dünnen Schicht auf ihren Lippen. Ihre hellrosa Zunge kostete ein bisschen und dann kam sie auf ihn zu. Simon, der in seinem Leben noch nie etwas mit Drogen zu tun gehabt hatte, konnte seinen Blick kaum von ihrem Mund lösen, machte aber automatisch einen Schritt zurück. Chrissi ließ ihn nicht gehen und drückte ihn gegen eines der Waschbecken, um ihn vor der Flucht zu hindern. Simon erstarrte, als sie sich langsam zu ihm vorbeugte und ihr Gesicht immer näherkam. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihre weichen Lippen zu spüren, und dem Drang zu fliehen. Als sich ihre Körper endlich wieder berührten, war er allerdings verloren. Ihre Lippen trafen auf seine. Er hörte sie wieder leise stöhnen und dieses himmlische Geräusch brachte seinen Widerstand zum Einstürzen. Er nahm sie ungestüm in die Arme und teilte ihre zarten Lippen mit seiner Zunge. Endlich! Wie ein Ertrinkender hielt er sie fest, während sie sich leidenschaftlich küssten. Als sich ihre Zungen trafen, hatte er das Gefühl, der Raum würde sich um sie drehen. Er drehte sich mit ihr in einer schnellen Bewegung um, nahm sie in der Taille und setzte sie auf den Rand des Waschbeckens, ohne auch nur eine Sekunde den Kuss zu unterbrechen. Er drängte sich zwischen ihre gespreizten Beine und konnte ihre Hitze durch seine Hose spüren. Er musste sie haben. Am besten gleich hier und jetzt. Da hörte er ein leises Kichern von dem roten Sofa. Er hatte die beiden Grazien ganz vergessen, die offensichtlich die heiße Show vor ihren Augen sehr genossen. Zögernd löste sich Simon von Chrissi und ein klein wenig Schamesröte zog sich über sein Gesicht. Was machte er hier eigentlich? Er erkannte sich selbst kaum wieder. Sein blonder Engel ließ diese Gedanken aber nicht zu. Chrissi nahm sein Gesicht in beide Hände, sah ihm tief in die Augen und sagte: „Los, komm mit.“ Und sofort war er wieder in ihrem Bann. Sie verließen Hand in Hand die Toilette und erreichten die Tür des Hinterausgangs. Sie standen in einer dunklen Gasse. Chrissi lehnte sich an die Wand und zog ihn fest an sich. Sofort fanden sich ihre Lippen und die Leidenschaft war sofort wieder entfacht. Ihre Hand drängte sich zwischen ihre Körper und strich fest über die deutliche Beule in seiner Hose. Simon zog scharf die Luft ein. Geschickt öffnete sie seine Hose und als sie ihn mit ihrer Hand umschloss, stöhnte er laut auf. Er konnte nicht länger warten. Grob umfasste er ihre Oberschenkel, legte ihre Beine um seine Hüften und drängte sie gegen die kalte Mauer. Hastig zerriss er ihre Netzstrümpfe und schob das kleine, seidene Höschen zur Seite. Mit einem kräftigen Stoß drang er tief in sie ein. Chrissis Kehle entrang sich ein heißerer Schrei. Fest umschloss sie ihn und drängte ihn mit den Bewegungen ihrer Hüfte zu einem schnellen Rhythmus. Simon war rasend vor Leidenschaft. Er spürte seinen Höhepunkt immer näherkommen, angetrieben von Chrissis lautem Keuchen. Als die ersehnte Erlösung endlich da war, explodierte ein wahres Feuerwerk vor seinen geschlossenen Augen. Simon dachte, er würde ohnmächtig werden, so stark war die Welle, die ihn überrollte.

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Als er die Augen wieder aufschlug, sah er den Grabstein vor sich. Er saß wieder auf dem steinernen Grabdeckel. Es war dunkel und kalt. Erschrocken sah er sich um, aber er war allein. Was war passiert? Wo war sie? Hatte er jetzt vollkommen den Verstand verloren? Konnte es sein, dass er sich alles nur eingebildet hatte? Simon sank in sich zusammen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Offensichtlich hatte ihm sein Verstand einen Streich gespielt. Als er tief in sich hineinhorchte bemerkte er aber, dass sich etwas verändert hatte. Sein Herz war zwar immer noch gebrochen, aber er spürte einen Funken Hoffnung und eine leise Gewissheit, dass er wieder etwas fühlen konnte. Daran hatte er nicht mehr geglaubt. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, seine Trauer loszulassen. Die Kirchenglocken läuteten. Es war Mitternacht und der 24. Dezember war vorbei.

Langsam stand er auf, nahm die Decke und warf noch einen Blick auf das Grab. Rebecca!
Moment mal … die Decke? Er hatte doch keine mitgenommen!

Viktoria Kilian ist ein Pseudonym einer Autorin, die anonym bleiben möchte.